Estrella Soria, von Beruf Kommunikationswissenschaftlerin und freie Radioaktivistin („radiolista popular“), hat in der Fortbildung und Begleitung freier und gemeinschaftlicher Radios („radios comunitarias“) mit Genderperspektive („perspectiva de género“)1 gearbeitet und war an Produktionen und Programmen beteiligt, die von der Internationalen Radiobiennale (Bienal Internacional de Radio) prämiert wurden. Im Journalismus hat sie sich durch die Universidad Iberoamericana auf Menschenrechte spezialisiert, aktuell studiert Kommunikation & Politik auf Magister an der Universidad Autonoma Metropolitana in Mexiko Stadt.
In den letzten Jahren haben die „radios comunitarias“ (freie gemeinschaftliche Radios) in einigen Regionen Mexikos einen wichtigen Impuls erfahren. Viele sind in Regionen, in denen für die Autonomie gekämpft wird, wie es in einigen Dörfern in Chiapas, Guerrero und Oaxaca der Fall ist, entstanden.
Auf gewisse Art handelt es sich dabei um eine Wandlung bezüglich der hegemonialen Kommunikation um dem kulturellen und sozialen Leben einen organisierteren Sinn zu geben. Es handelt sich um Aneignungsprozesse, die die Schaffung von Diskursen jenseits der dominanten Ideologie ermöglichen. Das heisst, sie haben aus dem Medium eine Form der Unterstützung der Transformation des alltäglichen Lebens gemacht. Der Aufbau der Autonomie verlangt diese Transformation, wobei Frauen eine wichtige Rolle spielen. Obwohl viele der Arbeitsprozesse der „radios comunitarias“ schon von Frauen genährt und aufrechterhalten werden, ist der Weg noch weit. Auch wenn es nahestehende Beispiele für die Übernahme und Kreation von Medien durch Frauen in Mexiko gibt, ist die Entscheidungsfindung und die Aneignung von Technologien noch immer Männer-dominiert, was die Ausübung der freien Kommunikation in diesem Land zu einer Herausforderung macht.
Wenngleich die „radios comunitarias“ im städtischen Umfeld ins Leben gerufen wurden, haben sie sich in den ländlichen und indigenen Gemeinden am meisten entwickelt. Dies geschah zum größten Teil aufgrund der politisch-wirtschaftlichen Zuständen, die dort erlebt werden. Es geschah aber auch aufgrund der Infragestellung dieser Dörfer der Tradition, Bräuche, Sitten und der sozialen Organisationsformen während der letzten Jahre, womit sie die Möglichkeit eine andere Art von sozialen Beziehungen zu schaffen eröffnet haben. Außerdem existiert in den Indigenen Zonen eine lange Geschichte des kollektiven Lebens, was die Schaffung von neuen Formen des Erlebens der Gemeinschaft ermöglicht oder zumindest erleichtert.
Die freien gemeinschaftlichen Radios sind anders als die staatlichen Medien, die lange Zeit vom Institut für Indigene Angelegenheiten (Instituto Nacional Indigenista) oder von für indigene Dörfer zuständigen Regierungsinstanzen vorangetrieben wurden. Denn ihr kultureller Inhalt aber auch ihre politischen Auswirkungen und ihre Organisationsformen sind andere. Wir erinnern uns, das die indigenen Radios ihre Wurzeln im Indigenismus hatten, das heisst in den politischen Anpassungsmaßnahmen, die für viele Jahre die Basis der Ethnienpolitik vieler Generationen von lateinamerikanischen Regierungen darstellten. Sehr wenige Radios, die Teil des indigenen Anpassungsprojekts waren, schafften es, sich in etwas mehr als nur die Verstärkung der in der Vergangenheit verwurzelten Ideologien um das Indigene und seinen unveränderbaren Charakter herum zu verwandeln. Die große Mehrheit der staatlichen Radioprojekte hatte wenig mit dem wahren zeitgenössischen Indigenismus, mit der Realität die sie Tag ein Tag aus erleben und darstellen, zu tun.
Eines der Dinge, die man bei dem was wir „radios comunitarias“ nennen werden, hervorheben muss, sind die Inhalte die produziert werden und die sozialen Prozesse die sie selbst entwickeln. Weit entfernt vom „Folklore“ oder von der patrimonialen Vision der Kultur, begünstigen diese Radios die Produktion von neuen Musikstilen und Diskursen um das unmittelbare soziale Leben herum. Aber sie begünstigen auch die Veränderungsformen der sozialen Normen, wie es der Fall ist bei der immer breiteren Beteiligung der Frauen bei der Erhebung ihrer Stimmen. Es handelt sich hierbei um Situationen, die einem Bruch und einer Erneuerung der Kultur und Gesellschaft viel näher sind als einer patrimonialen Aufrechterhaltung, wie sie bei den vom Staat hervorgerufenen Radios auftauchte.
Es gibt einen Unterschied, dessen Begründung wichtig ist. Wenn wir hier von „radios comunitarias“ sprechen, beziehen wir uns auf Projekte, die aus Initiativen der Dörfer selbst entstanden sind und erhalten werden. Dies ist wichtig, da es bedeutet, dass diese Projekte nicht mehr ideologisch und wirtschaftlich von den Plänen der amtshabenden Regierungen und den nationalistisch ausgerichteten kulturellen Projekten abhängen. Wir sprechen hier also von indigenen Gemeinden, die den Weg der Selbstbestimmung aus unterschiedlichen Gründen gewählt haben. Sie haben auch die Idee des Ethnologen als Experten der Kultur, der die kulturellen, medialen und politischen Inhalte, die über Radiosendungen verbreitet werden, konstruiert und formt, hinter sich gelassen. Das heisst, die „radios comunitarias“ reflektieren mit höherer Klarheit das, was die Dörfer ausdrücken wollen, als die kulturalistischen und staatsgetragenen Radios.
Der statischen und romantisch-kolonialen Vision der Radios des INI können wir die „radios comunitarias“ als Raum für Ereignisse entgegensetzen. Ereignisse in ihrem weiteren Sinne, denn ihre Gründung ist in sich selbst ein Veränderungsfaktor des sozialen Alltags. Man muss sich die Frage stellen, was die Erscheinung von „radios comunitarias“ ermöglicht und es ist auch einschlägig sich zu fragen warum jetzt solche Radios an viel mehr Orten gegründet werden als vor einigen Jahren. Die Antworten sind zahlreich und sicherlich begleitet von einer Reihe politische-wirtschaftlicher Erklärungen. Wir werden uns nicht so sehr beim Kontext aufhalten, sondern beim Potenzial, welches Gesellschaften bei der Veränderung ihrer Lebensformen haben.
Beginn: ca. 21:00 Uhr
- 1Dynamische/s Ideologie/Konzept bezgl. der Geschlechter; neue Art den Menschen, Geschlecht und die Gesellschaft zu sehen; besagt das die Unterscheidung in männlich und weiblich keinen biologischen sondern einen kulturellen, sozialen und psychologischen Ursprung hat. Geschlecht wurde laut diesem Konzept von der Gesellschaft erfunden. Die „Genderperspektive“ ist ein Interpretationsschlüssel der Gesellschaft, der beabsichtigt die kulturellen Konditionierungen, die die Frau unterdrücken, zu erkennen und anzuprangern und gleichzeitig Initiativen zur Befreiung der Frau von diesen Konditionierungen auslöst. [zurück]